Turnerin Kim Bui über ihre Bulimie-Erkrankung "Ich habe eine Art Doppelleben geführt"
Kim Bui war Leistungssportlerin. Drill und Kontrolle gehörten zum Alltag, auch auf der Waage. "Du bist zu schwer" sei ein Glaubenssatz geworden. Im Interview mit Martina Knief spricht sie offen über ihre Bulimie, den Weg heraus und darüber, dass der Leistungssport zwar Auslöser, aber nicht Ursache der Krankheit war.
Turnen ist für Kim Bui noch immer die schönste Sportart der Welt, trotz allem. Kraftvoll, elegant, komplex. Und "einfach wahnsinnig schön, da zuzusehen und natürlich auch, das auszuüben."
Als sie zum ersten Mal in einer Turnhalle steht, ist sie vier und spricht noch nicht so gut Deutsch. Ihre Eltern kamen als Boat People nach Deutschland, also als Bootsflüchtlinge, die aufgrund des Vietnamkriegs aus ihrer Heimat flüchteten. Als sie knapp zwanzig Jahre und zwei Kreuzbandrisse später bei den Europameisterschaften 2022 ihren Rücktritt vom Leistungssport verkündet, hat sie für den Deutschen Turnerbund drei Mal bei Olympischen Spielen teilgenommen und etliche Medaillen gewonnen.
Ein halbes Jahr, nachdem sie zum letzten Mal als Leistungssportlerin am Stufenbarren turnte, spricht sie zum ersten Mal öffentlich über ihre Essstörung. Kim Bui litt in ihrer aktiven Zeit an Bulimie, sie erzählt davon in ihrem Buch "45 Sekunden" und in der Fernseh-Doku "Hungern für Gold" des Bayerischen Rundfunks.
Viel Drill und viel Kontrolle
Kunstturnen sei eine Sportart mit viel Drill und Kontrolle, sagt Bui im Interview mit hr-iNFO . "Wir wurden damals immer wieder gewogen, und irgendwann kam der Satz: 'Vielleicht solltest Du ein paar Kilo abnehmen, dann wird Dir das eine oder andere leichter fallen.' Das kam immer mal wieder und irgendwann verfestigt es sich in Deinem Kopf, das wird dann zu so einem Glaubenssatz: Ich bin dick, ich bin fett, ich bin zu schwer."
Sie versucht, auf normalem Weg abzunehmen: weniger Essen, gesunde Ernährung. Der Effekt auf der Waage: null. "Irgendwann kam ich dann zu dem Punkt, dass ich nicht mehr aufs Essen verzichten wollte, weil ich mag Essen. Ich liebe Essen. Und dann habe ich gedacht, ich esse einfach alles. Aber das Essen musste irgendwie wieder raus, weil dann kommt dieses schlechte Gewissen. Und dann habe ich angefangen, mich eben zu erbrechen."
Eine Art Doppelleben
Die Erinnerungen an die Zeit, die folgt, sind schwammig. Es sei viel passiert damals, sagt sie: "Auf der einen Seite das normale Leben, das Training, Schule und so weiter. Auf der anderen Seite habe ich mich den ganzen Tag mit meinem Körper, mit meinem Gewicht beschäftigt. Ich habe eine Art Doppelleben geführt." Die Momente, in denen sie sich den Finger in den Hals steckt, sind schrecklich, das weiß sie bis heute. Sie weiß auch, damals schon, dass es nicht gut ist, was sie ihrem Körper antut, doch das verdrängt sie. Bis eines Tages ihre Trainerin zu ihr kommt und sagt: 'Ich weiß, was Du tust. Ich weiß, dass Du Dein Essen systematisch wieder erbrichst und ich möchte, dass Du Dir professionelle Hilfe holst. Und Du brauchst mich auch nicht anzulügen. Ich weiß, dass es so ist.'
Kim Bui sucht sich eine Therapeutin, sie hört auf, sich zu erbrechen, sie beginnt, all das aufzuarbeiten, was hinter der Essstörung steckt: die Prägung durch die Familie, die Erziehung, das soziale Umfeld. Sie habe eine Prädisposition für die Erkrankung gehabt, sagt sie heute. Der Leistungssport sei nicht die Ursache des Problems gewesen, sondern nur ein Auslöser. Sie muss lernen, kontrolliert mit etwas umzugehen, worüber sie die Kontrolle verloren hatte, etwas, das sie nicht aus ihrem Leben verbannen kann, weil es lebensnotwendig und immer da ist. "Das hat viel Zeit und sehr, sehr viel Arbeit gekostet."
Ein Teufelskreis, aus dem man nur schwer alleine rauskommt
Esssucht sei ein absoluter Teufelskreis, aus dem man nur schwer alleine rauskomme, sagt sie. Und es sei ein Thema, über das noch viel zu wenig gesprochen werde. Genau das kann aber helfen, das hat sie selbst erlebt: Vor etwa einem Jahr trifft sie eine Bekannte, die auch an Bulimie erkrankt war. Die Frau spricht offen über das, was sie erlebt hat, und das nimmt auch Kim die Scham, über sich selbst zu reden: "Es war für mich der Moment, wo ich dachte: Wow, da ist jemand, der mich versteht und der das so nachempfinden kann, was ich damals durchgemacht habe. Und das war für mich so ein bereicherndes Gefühl."
Es ist auch der Moment, in dem sie auf die Idee kommt, ein Buch zu schreiben und ihre Geschichte öffentlich zu erzählen. "Wenn ich auch nur eine Betroffene, einen Betroffenen da draußen ansprechen und das Gefühl geben kann, dass er nicht alleine ist, dann war es das wert, dass ich das niedergeschrieben und mich geöffnet habe“, sagt Kim Bui. Und schickt eine Bitte an alle Betroffenen hinterher: "Holt Euch bitte professionelle Hilfe. Das ist etwas, was man nicht oder nur sehr, sehr schwer selbst therapieren kann."
Sendung: hr-iNFO "Das Interview", 4.2.2023, 10:05 Uhr
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