Kommentar "Eine Lobby für den Bürgerwillen"

Es ist ein Novum: Erstmals kommen in Berlin Bürgerinnen und Bürger zusammen, um Vorschläge zu politischen Fragen zu erarbeiten – im Auftrag des Parlaments in einem Bürgerrat. Aber ist das ein gute Idee?

Bürgerräte - Symbolbild
Bild © João Marcelo Martins / Unsplash
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Ein Bürgerrat aus 160 Bürgerinnen und Bürgern: Diese kleine Minderheit soll bestimmen, was wir anderen 84 Millionen wollen? Wie der Staat künftig mit dem Thema Ernährung umgehen soll? "Dafür haben wir doch unsere Abgeordneten im Bundestag, die sollen diskutieren und dann entscheiden, die habe ich schließlich auch mitgewählt."

Das stimmt, aber im Bundestag sitzen Menschen, die wir zwar gewählt haben, die aber gar nicht alle Teile der Bevölkerung widerspiegeln. Nicht aus bösem Willen, wir hatten ja die Wahl. Aber bei einem Bürgerrat hat durch das Losverfahren wirklich jeder Bürger, jede Bürgerin eine Chance, hineinzukommen.

Ersetzen nicht den Bundestag

Klar ist die so niedrig wie einen Sechser im Lotto zu bekommen, doch durch das Losverfahren kommen Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung in diesen Bürgerrat. Und das heißt: Von den 160, die da drinsitzen, wird einer oder eine oder sogar mehrere irgendwie auch ein bisschen wie ich sein, denken, fühlen. Meine Perspektive wird also wohl auch vertreten sein, wenn die 160 jetzt über "Ernährung im Wandel" diskutieren und am Ende ihr "Bürgergutachten" vorlegen.

Und das ist wichtig: Sie ersetzen nicht den Bundestag, der allein entscheidet. Es sind "nur" Vorschläge. Aber diese Vorschläge haben eine besondere Qualität: Denn die hat nicht irgendwer ausgehandelt, sondern ein sehr diverser Querschnitt durch die Bevölkerung. Diese Vorschläge kann der Bundestag dann annehmen oder ablehnen oder erst mal verändern und dann beschließen.

Lieber Bürgerräte als Lobbys

Man kann sagen: Ein fair ausgeloster Bürgerrat ist eine Art Lobby für die Bürger unseres Staates. Unsere Bundestagsabgeordneten sind doch auch sonst dem Einfluss und dem Druck von mehr oder weniger mächtigen Lobbys ausgesetzt. Wer hat die denn ausgesucht? Wer gibt denen das Recht, im Bundestag ein und auszugehen und unsere Abgeordneten zu umschmeicheln und denen sogar manchmal ganze Gesetzestexte zu diktieren, die dann so beschlossen werden. Ist das "repräsentativ"?

Also: Bürgerräte sind zumindest auch eine Lobby. Eine Lobby dafür, was "der Bürger, die Bürgerin" will. Klar: Den Bürger, die Bürgerin gibt es nicht. Aber 160 ausgeloste Menschen sind vielleicht doch ein guter Querschnitt.

Gegenmittel zur Polarisation?

Und noch etwas: Bürgerinnen und Bürger entzweien sich immer mehr: Bei Corona, der Energiewende, Veganer gegen Fleischesser: Da gibt es oft keinen Dialog mehr zwischen den Fronten, und die Politik hilft da kräftig mit bei dieser Polarisierung.

Wenn in einem Bürgerrat gegensätzliche Sichtweisen sich austauschen müssen – vielleicht sogar dabei Veggie-Day und Fleischkonsum friedlich in Einklang miteinander gebracht werden können: dann kann das dabei helfen, dieser Polarisierung entgegen zu wirken. Und das wäre eine segensreiche Wirkung der Arbeit von Bürgerräten.

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Sendung: hr-iNFO "Aktuell", 29.09.2023, 9 bis 12 Uhr

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Quelle: hr INFO