Vor der Wahl in der Türkei "Das Volk ist zornig"
Lange Zeit wirkte der türkische Präsident Erdogan unbesiegbar, jetzt wackelt sein Thron merklich: Gut einen Monat vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl sehen fast alle Umfragen den Oppositionskandidaten vorn. Ist die Ära Erdogan also bald Geschichte? Einschätzungen von zwei türkischstämmigen Beobachtern aus Hessen.
Fragt man Hüseyin Kurt nach seiner Prognose bei den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, dann tendiert der 58-Jährige zu Erdogan. Kurt ist seit vielen Jahren in der kommunalen Ausländervertretung Frankfurt aktiv. Die entscheidende Frage ist seiner Meinung nach, wem die Wähler eher zutrauen, den durch das Erdbeben zerstörten Südosten wieder aufzubauen. "Große Teile der Bevölkerung sagen, das kann der Erdogan packen. Deswegen glaube ich, das geht in die Richtung, dass die Bevölkerung sagt: Ja, noch eine Periode soll man Erdogan geben, aber das zum letzten Mal."
Unterschiedliche Prognosen
Also "Spiel's noch einmal, Erdogan?" Mehmet Canbolat tendiert eher zu "Das Spiel ist aus, Erdogan". Der 65-Jährige ist seit 40 Jahren gesellschaftspolitischer Journalist im Rhein-Main-Gebiet, er sieht die besseren Chancen beim Oppositionsführer. "Nach den Prognosen tendiert der Erfolg in Richtung Kemal Kılıçdaroğlu. Das Land leidet darunter, viele junge Menschen laufen von dem Land weg, viele Frauen und junge Mädchen haben große Angst um ihre Zukunft und die Demokratie funktioniert nicht so, wie man wünscht", sagt Canbolat.
Repressionen gegen die Opposition, anhaltende Inflation, schwächelnde Wirtschaft: Punkte die gegen Erdogan und seine seit 20 Jahren regierende AKP sprechen. Aber traut die Bevölkerung der Opposition mehr zu? Hüseyin Kurt hat Zweifel: "Da hören wir von der Opposition möglichst wenig, wie sie die Inflation nach unten bringen wollen. Nur noch 'Erdogan muss weg, egal was kommt' - das ist ein bisschen schwach. Die müssen auch ihre Rezepte der Bevölkerung zeigen."
Ein ruhiger Wahlkampf
Beide Deutsch-Türken sind sich trotz unterschiedlicher Prognosen in einem Punkt einig: Es wird ein ruhiger Wahlkampf. Laute Wahlkampfauftritte in großen Hallen wie es sie in früheren Jahren auch in Deutschland gab, wird es dieses Jahr nicht geben. Aus Rücksicht auf Opfer des Erdbebens.
Aber Konfliktthemen zwischen der Türkei und Deutschland bestehen weiter. Was wird in Zukunft mit den mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei? "Das ist halt ein Spielzeug zwischen Ankara und Berlin", sagt Journalist Mehmet Canbolat. "Europäer, die Deutschen möchten, dass die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und so weiter lieber in der Türkei bleiben sollen: 'Wir geben der Türkei Geld.' Aber das Volk ist zornig."
Herausforderer Kılıçdaroğlu will die Syrer wieder in ihre Heimat zurückzuschicken. Trotz der dortigen Assad-Diktatur. Innenpolitisch für Deutschland wahrscheinlich einfacher zu handeln, ließe sich auch dieser Plan ohne politische und finanzielle Unterstützung aus Berlin kaum umsetzen.
Sendung: hr-iNFO "Aktuell", 11.4.2023, 6 bis 9 Uhr
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