Korhan Ekinci, Vorsitzender des Landeselternbeirats "Kinder dürfen kein Spielball der Politik sein"
Die Politik rede das Problem an den Schulen oft klein, sagt Ekinci. Deshalb müsse zunächst mal anerkannt werden, dass "wir zu wenig Lehrkräfte haben und dass zu viel Unterricht ausfällt." Dann könne man über Lösungen reden.
hr: Sie haben als Landeselternbeirat eine Umfrage zum Unterrichtsausfall gestartet. Was war die Leitfrage?
Ekinci: Ich habe zu meinem Antrittsgespräch als Vorsitzender mit allen Landtags-Fraktionen Gespräche gesucht und kam mit einem Koffer voller Wünsche an die Politik. Einer dieser Wünsche war, dass wir etwas gegen den Unterrichtsausfall tun. Und damals haben einige der Fraktionen gesagt: ‚Moment mal! Unterrichtsausfall? Den gibt's doch gar nicht!‘
Und da ist uns aufgefallen, dass dieser Unterrichtsausfall gar nicht erhoben wird. Das müssen wir also machen. Und klar war unsere erste Anlaufstelle erst mal das Kultusministerium mit der Bitte: ‚Es fällt hier Unterricht aus, könnt ihr uns da nicht mal Zahlen nennen?‘ Und dann sind wir mit dieser Frage an die hessischen Eltern herangegangen und wollten wissen: Wie viel Unterricht fällt bei euch aus?
"Politik trickst gerne"
Wir haben eine wissenschaftliche Methode angewandt und wir haben erst mal definiert, was ist Unterrichtsausfall, weil auch hier die Politik gerne trickst. Denn in der Politik wird es oft nicht als Unterrichtsausfall gewertet, wenn Schülerinnen und Schüler zwar keinen Unterricht haben, aber in der Schule aufbewahrt werden. Das ist nämlich in der Grundschule relativ häufig der Fall. Und wenn man sich dann die Zahlen anguckt, die von der Politik genannt werden, dann sieht es tatsächlich erst mal tendenziell so aus, als würde wirklich kein Unterricht ausfallen.
Guckt man sich dann aber an, was die Kinder in der Unterrichtszeit gemacht haben, dann sieht man: Sie wurden nicht unterrichtet, sondern wirklich nur aufbewahrt. Sei es durch nicht-ausgebildete Personen, nicht pädagogisch-ausgebildete Personen, die dann irgendwelche Filme zeigen, Spiele spielen und auf dem Schulhof auf sie aufpassen. Sei es aber auch durch komplett fachfremden Unterricht durch Personen, die etwas ganz anderes unterrichten, als auf dem Lehrplan steht oder etwas unterrichten, worin sie nicht ausgebildet sind. Das haben wir ermittelt.
"Schüler an Grundschulen werden oft nur aufbewahrt"
hr: Was ist das Ergebnis?
Ekinci: Die Ergebnisse bestätigen das, was Eltern und Lehrkräfte und auch Schülerinnen und Schüler dem Landeselternbeirat immer wieder in ihren Beschwerden gesagt haben. Es ist tatsächlich so, dass gerade im Bereich der Grundschulen Schülerinnen und Schüler zu oft nur aufbewahrt werden und nicht wirklich unterrichtet werden. Das ist im Bereich 30 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Grundschulen tatsächlich der Fall.
hr: Eine Kollegin von uns war als Quereinsteigerin an einer Schule in Wiesbaden und hat dort Kinder unterrichtet und ihnen beispielsweise das Alphabet beigebracht. Fällt das nach Ihrer Definition unter Aufbewahren oder Unterricht?
Ekinci: Das wäre in dem Fall Unterricht. Tatsächlich ist es aber so: Ihre Kollegin war vermutlich in einem Dienstverhältnis an dieser Schule, wo sie nicht weisungsgebunden war. Das heißt, dass Ihre Kollegin den Kindern das Y beigebracht hat, das lag einfach an ihrem persönlichen Engagement und an ihrem Leitbild, was sie persönlich für sich nimmt. Das hätte sie nicht tun müssen.
Was wir in der Praxis oft genug erleben ist, dass gerade Personen, die mit diesem Vertragsverhältnis an die Schulen kommen, das am Anfang vielleicht noch gut machen, aber in der Regel dann doch durch die Unterrichtsbelastung tendenziell in eine Richtung gehen, wo es eher um Aufbewahrung geht und wo wir dann aktiv werden und sagen: Das kann keine Dauerlösung sein! Und es kann nicht sein, dass wir - gerade in dem Bereich der Grundschule, wo die Kinder das Fundament für ihre weitere schulische Laufbahn bekommen - dass wir da so viel auf diese Personen zurückgreifen müssen.
"Wir müssen erst mal ausbilden"
Was ist Ihre Forderung als Landeselternbeirat?
Ekinci: Die erste wichtigste Forderung ist, dass wir erst mal anerkennen, dass wir zu wenig Lehrkräfte haben. Es fällt zu viel Unterricht aus. Wir dürfen nicht Wahlkämpfe führen, wo es heißt: ‚Wir haben so viele Lehrkräfte wie noch nie. Es ist doch alles schön und gut!‘ Denn hier geht es um unsere Kinder. Das darf kein Spielball der Politik sein. Wir sind Eltern und wir wollen, dass unsere Kinder unterrichtet werden – vernünftig unterrichtet werden! Das heißt, wenn wir alle als Gesellschaft anerkannt haben, dass wir einen Lehrermangel haben und dass zu viel Unterricht ausfällt, dann können wir über Lösungen reden.
Und über diese Lösung möchten wir auch reden. Wir haben viel zu wenig Lehrerinnen und Lehrer vor allem in der Grundschule. Da müssen wir erst mal ausbilden. Das erkennt die Politik auch mehr und mehr an. Da hat das Land Hessen jetzt mit einer kleinen Erhöhung darauf reagiert. Das ist auf jeden Fall ein richtiger Schritt in die in die richtige Richtung. Aber das ist eben nur ein Schritt. Wir müssen jetzt langsam mal Marathon an den Tag legen.
Quer- und Seiteneinsteiger sind eine Notlösung, aber in dem Fall das „Not“ fettgedruckt und unterstrichen! Es ist keine Lösung für ordentlichen Unterricht. Wir möchten, dass ordentlich ausgebildet wird, dass ordentlich auch pädagogisch-ausgebildetes Personal auf unsere Schülerinnen und Schüler losgelassen wird.
Eine weitere Forderung des Landeselternbeirats ist: Wir müssen drüber reden, wie wir die Lehrkräfte ausbilden. Denn wir haben in der Politik aus allen Parteien immer wieder die Frage aufgeworfen bekommen: Bilden wir denn Lehrer auch heute noch zeitgemäß aus? Aber die Grundlage auch dieser Gespräche muss immer sein, dass anerkannt wird, dass wir eben mehr Lehrkräfte brauchen.
Schulsystem grundlegend überdenken
hr: Also müsste sich auch das System Schule ändern?
Ekinci: Ja, unbedingt! Das System Schule, was wir heute kennen, ist ja so alt, dass wir selten ein Beispiel in unserem Alltag finden werden, das so lange so unberührt über die Jahrzehnte stattgefunden hat. Also ja, wir müssen über die Ausbildung unserer Kinder reden. Wir müssen darüber reden, was das richtige Konzept ist. Die Länder mit einem sehr guten Ergebnis in der Pisa-Studie haben es uns eigentlich schon vor zehn Jahren vorgemacht.
Wir müssen gerade mit weiterbildenden Schulen darüber reden, ob wir nicht eher projektgebunden unterrichten und diese Fächer-Bindung auflösen. Wir müssen darüber reden, ob wir nicht eher so aktuelle gesellschaftliche Themen aufnehmen. Wir kämpfen ja auch dafür, dass wir auch wieder ein humanistisches Abitur zulassen, dass wir uns nicht so sehr auf MINT-Fächer konzentrieren, weil nicht jeder Mensch ist mathematisch-informationstechnisch geprägt. Es darf auch Menschen geben, die gesellschaftlich-sozial geprägt sind, die unser Schulsystem auch hervor bringt.
Und wir müssen endlich diese Kritik aufgreifen, die unser Schulsystem schon zu Zeiten von Albert Einstein hatte: dass wir nicht versuchen, allen beizubringen, wie ein Affe auf den Baum zu klettern und ihn danach bewerten. Sondern wir müssen es auch erlauben, etwa einen Frosch dahingehend zu bewerten, ob er es als Frosch gelernt hat, im Wasser zu schwimmen. Das muss unser Schulsystem leisten!
Aber damit unser Schulsystem das leisten kann, damit diese Konzepte erarbeitet werden können, müssen wir a) genug Lehrkräfte haben und b) die Lehrkräfte, die wir haben, wesentlich entlasten. Denn wir tun immer noch so, als hätten sie die gleiche Arbeitsbelastung wie vor 20, 30 Jahren. Und das stimmt einfach nicht.