Uta Römer und Melanie Volmer, Grundschullehrerinnen "Wir brauchen Leute, die wissen, was sie tun"
Sie seien inzwischen froh, wenn überhaupt jemand zum Unterrichten komme, sagen die Wiesbadener Lehrerinnen. Doch gerade an sogenannten Brennpunktschulen wie der ihren sei es wichtig, dass Profis in den Klassen stehen. Ein Gespräch über den Schulalltag mit Laien-Pädagogen.
hr: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie als ausgebildete Lehrerin die vielen Quer- und Seiteneinsteiger an den Schulen sehen?
Volmer: Wir sind ja froh, wenn überhaupt jemand kommt. An dem Punkt sind wir schon. Ich habe im letzten Jahr ein erstes Schuljahr gehabt. Trotz Höchstgrenze von 25 waren wir 26 in der Klasse. Und wenn jemand krank wird, hat man noch zusätzliche Kinder in der Klasse, die manchmal nicht mehr reinpassen und dann im Flur sitzen und alleine sind. Das alleine war schon dramatisch. Und inzwischen sind wir froh, wenn überhaupt jemand als Vertretung da ist oder Unterricht übernimmt - egal, wer es ist.
Förderung für Seiteneinsteiger, nicht für Kinder
Gibt es so etwas wie eine Mentorenstunde für die Quer- und Seiteneinsteiger?
Volmer: Also eine Mentorenstunde gibt es für Lehramtsanwärter. Für die anderen: nein. Das geht so nebenbei. Hin und wieder ist das so, dass man es sozusagen mitnutzt, wenn man Doppelbesetzungen in der Klasse hat, also wenn zwei Lehrerinnen in einer Klasse unterrichten. Aber eigentlich ist diese Stunde ja dafür da, dass die Kinder Unterstützung haben - also dass eine professionelle Kraft kommt und zum Beispiel mit Schülern arbeitet, die eine Lese- und Rechtschreibschwäche haben, dass eben jemand ganz gezielt diese Kinder fördert.
Wenn wir jetzt jemanden haben, der als Seiteneinsteiger kommt und doppelt gesteckt ist, dann führt das eher dazu, dass die Förderung nicht auf die Kinder übergeht, sondern auf die Lehrkraft. Das ist dann einfach im Alltag so. Das sind ja auch alles engagierte, nette, freundliche Menschen, die ihre Arbeit gut machen. Und man hilft ihnen natürlich auch gerne. Ich glaube nur, es wäre auch für diese Leute besser, wenn sie einen gewissen Vorlauf hätten und eine Ausbildung erfahren: Für die Kinder und für die Lehrkräfte wäre es besser. Der Lehrermangel kam ja nicht überraschen. Das war ja absehbar, dass wir zu wenig Lehrkräfte haben.
Kinder brauchen Profis
hr: Fühlen Sie sich manchmal alleingelassen?
Volmer: Ja, selbstverständlich, denn eigentlich ist es die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass hier vor Ort die Ressourcen entsprechend sind, dass wir hier arbeiten können. Und zwar so, wie es eigentlich vorgesehen ist. Und das ist im Augenblick nicht gegeben.
hr: Gerade an sogenannten Brennpunktschulen braucht es ja besondere Unterstützung, heißt es oft.
Volmer: Ja, das sehe ich auch so. Also wir brauchen gute Leute, denn es ist so: Wir haben die Unterstützung aus dem Elternhaus jetzt nicht so, wie es an manch anderer Schule ist. Hier ist es so, dass wir in der Schule eigentlich fast alles leisten müssen. Es gibt natürlich Ausnahmen. Aber es ist hier nicht so, dass Mutter oder Vater oder Geschwister am Nachmittag noch großartig was machen können. Das sind die Ausnahmen eigentlich. Und wir brauchen es hier und nicht auf dem Dorf, wo die Mutter am Nachmittag nochmal drüberguckt und nochmal das Einmaleins übt. Das haben wir hier nicht. Und darum brauchen wir eigentlich gute ausgebildete Leute in hoher Zahl.
Wir brauchen Leute, die wissen, was sie tun, die gut ausgebildet sind, die Erfahrung haben und die eigentlich maximale Arbeit leisten können. Das brauchen wir hier, weil die Kinder es aus einer anderen Quelle eigentlich nicht bekommen können. Die brauchen uns.
"Was man hier einspart, das rächt sich"
Sie sagen, der Eindruck, der durch den Einsatz von Quereinsteigern erweckt wird, sei fatal. Inwiefern?
Volmer: Ich glaube, dass durch den Mangel so ein bisschen der Eindruck erweckt wird, dass wir wirklich jeden nehmen, der gerade Zeit hat und vorbeikommt. Das untergräbt die Professionalität dieses Berufs und das finde ich ganz fatal - dass man halt meint: 'Ach ja, in der Schule war ich auch mal, war ja Schüler, also kann ich auch Lehrer sein.' Wenn man das jetzt auf andere Berufe überträgt - nur weil ich Krimis lese kann ich ja nicht zum Beispiel sagen: 'Ach, bei den Polizisten ist auch Mangel. Bewerbe ich mich doch beim BKA, denen kann ich doch bestimmt weiterhelfen.' Aber im übertragenen Sinne ist es bei den Lehrern so. Und das halte ich für fatal.
Denn es ist eine komplexe Aufgabe und eine wichtige Aufgabe. Es geht ja darum, dass die Zukunft hier entschieden wird. Das sind die Kinder, unsere Zukunft, und alles, was man hier gerade einspart, das rächt sich. Die Kinder haben es verdient!
Merken Sie es in Ihren Klassen, wenn dort ein Vertretungslehrer unterrichtet hat?
Volmer: Ja, das merkt man zum Beispiel selber, wenn man ein paar Tage krank war und zurückkam und in einer ersten Klasse sechs oder sieben Leute Vertretungsunterricht gemacht haben. Dann dauert das ein paar Tage, bis man wieder normal unterrichten kann, weil alle Abläufe, Rituale und Regeln, die man vorher hatte, durchbrochen wurden.
Also die machen das meistens wirklich gut und geben sich auch Mühe. Aber wenn man die Erfahrung nicht hat und nebenbei beispielsweise noch studiert, dann neigt man dazu, lauter zu sein oder einfach diese ganze Unruhe nicht unter Kontrolle zu haben.
Man braucht schon ein bisschen Berufserfahrung, um bestimmte Dinge zu können, das ist automatisch so. Und ja, das ist schon schwer, dann dagegen anzuunterrichten. Aber das kann man den Leuten ja nicht vorwerfen. Aber wenn man die Unterrichtsqualität untergräbt, indem man nicht genug Lehrkräfte einstellt, die ausgebildet sind, dann trifft es die Kinder. Sie haben ein Recht darauf, gut ausgebildet zu werden. Und wenn man dafür nicht sorgt, ist es eine Katastrophe.
"Kinder merken, wenn jemand unsicher ist"
Welche Herausforderungen kommen auf Quer- und Seitensteiger beim Unterrichten zu? Was unterschätzen viele von ihnen vielleicht?
Römer: Ich denke, man geht in eine Klasse mit einem Unterrichtsziel: Ich will am Ende der Stunde den Kindern das beigebracht haben. Aber Unterricht ist unglaublich vielschichtig. Da gehört dazu, dass ich Kontakt mit den Kindern habe, dass ich zum Beispiel nach einer Pause einen Streit schlichte, denn wenn noch Wut in einem Kind drin ist, kann es in aller Regel nicht gut arbeiten. Ich muss Hausaufgaben kontrollieren. Ich muss, wenn ich zum Beispiel einen Stuhlkreis mache, wissen, wie mach ich den, dass es kein Gedrängel mit den Stühlen gibt oder am Ende sogar Verletzungen.
Ich muss Kontakt zu Eltern halten - natürlich als Neuling nicht sofort, aber das ist sehr vielschichtig und ich glaube einfach, das wird unterschätzt. Und ich muss, was sehr wichtig ist, natürlich auch dafür sorgen, dass Ruhe in einem Klassenraum herrscht. Denn nur dann können die Kinder gut arbeiten und das hinzubekommen, ist einfach ganz schwierig. Und die Kinder merken das auch sehr schnell, wenn jemand da ein bisschen unsicherer ist, weil er eben noch nicht so viel Erfahrung hat oder auch gar keine Erfahrung.
hr: Was bedeutet es für Sie, dass Sie ständig mit diesem Mangel konfrontiert sind? Wie fühlen Sie sich dabei?
Römer: Also für mich bedeutet es eigentlich, dass ich oft auch wütend bin, weil ich denke, das geht zu Lasten der Kinder, die Besseres verdient haben, wenn wir ihnen nicht die Schule bieten können, die wir ihnen bieten könnten, wenn wir ausreichend Lehrpersonal hätten.
Gestiegene Anforderungen
hr: Was müsste sich verändern, dass die Situation besser wird?
Römer: Wir bräuchten natürlich mehr Lehrer, aber die müssen wir erst mal irgendwo herbekommen. Also ich denke, es wäre schon mal sehr viel wert, wenn sich das Bild der Grundschule in der Öffentlichkeit ein bisschen verändert. Wir haben immer noch diesen Ruf: 'Das ist ja nett. Ihr geht morgens in die Schule, bringt den Kindern Rechnen bis 20 bei und mittags habt Ihr frei und ganz viele Ferien habt Ihr auch.'
Und ich glaube, es ist auch in Medien gar nicht so präsent, was wir da eigentlich leisten und wie vielschichtig das ist, was da auf uns zukommt. Es sagen zwar viele Menschen: 'Ja, der Umgang mit den Kindern ist aus verschiedenen Gründen schon schwieriger geworden.' Aber dass das natürlich auch unmittelbaren Einfluss auf unsere Arbeit hat, das wird, glaube ich, in der Öffentlichkeit oft nicht so gesehen.
hr: Was hat sich denn konkret in Ihrer Arbeit verändert? Wo sind die Anforderungen gestiegen?
Römer: Gestiegen sind die Anforderungen, dass wir sehr engen Kontakt mit den Elternhäusern halten müssen, weil das für viele Eltern gar nicht mehr selbstverständlich ist, ihre Kinder zu unterstützen und zu kontrollieren, dass die Hausaufgaben gemacht sind. Das heißt, wir müssen ganz oft Rückmeldungen geben, Elterngespräche führen. Wir haben mehr Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, die entweder ganz normal in der Klasse beschult werden oder eben auch als Inklusionskinder. Das ist auch eine zusätzliche Belastung, weil die Stundenunterstützung, die wir da haben, das natürlich bei Weitem nicht abdeckt, was da an Anforderungen auf uns zukommt.
Und für viele Kinder sind bestimmte Regeln einfach nicht mehr klar: wie man sich untereinander verhält, was ein friedliches Miteinander bedeutet und wie gut es auch tut. Diese Werte müssen wir den Kindern vermitteln, dass das eigentlich das A und O ist, wenn wir hier gut zusammenarbeiten wollen, dass wir auch friedlich miteinander umgehen. Für viele Kinder ist einfach auch die Körpersprache - oder mit den Fäusten - eine Sprache, sich auszudrücken. Das ist nicht so, dass alle Kinder schlagen, Gott sei Dank nicht. Aber man hat eigentlich in jeder Klasse Kinder, die uns da wirklich auch Sorgen und Probleme bereiten.