Schreiben Sie uns! Erfahrungen und Meinungen zur Situation an Grundschulen
Weil es an Lehrern fehlt, unterrichten immer mehr Quereinsteiger an deutschen Grundschulen. Oft haben sie keinerlei pädagogische Ausbildung, sind Künstler, Krankenschwestern oder Architekten. Was sagen Lehrer, Eltern, Schüler und die Quereinsteiger selbst zu dieser Situation?
In Deutschland fehlt es an Altenpflegern und Klempnern, in manchen Regionen an Ärzten, in fast allen an Lehrern. In einem Fall werden die fehlenden Stellen mit Architekten, Krankenschwestern oder Fleischereifachverkäufern besetzt: Weil es nicht genug Lehrer gibt, stehen allein in Hessen 4.300 Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung vor den Klassen und unterrichten, 1.300 davon an Grundschulen.
Für Bildungsforscher Jörg Ramseger eine Katastrophe: "Ich kann auch nicht einfach sagen, ich bin jetzt Quereinsteiger-Chirurg und gehe an den Menschen und schneide den mal auf." An Schulen aber würden Laien einfach ins kalte Wasser geworfen und könnten von heute auf morgen Lehrer sein. Um Leben und Tod geht es dort freilich selten, aber "es wird völlig unterschlagen, dass insbesondere in der Schulanfangsphase die Basis für alles weitere schulische Lernen gelegt wird", sagt Ramseger. "Da werden hochqualifizierte Menschen gebraucht, die genau wissen, was sie tun."
Ohne Einführung vor die Klasse
Weil es an Lehrern mangelt, unterrichten auch an der Wiesbadener Geschwister-Scholl-Schule Menschen ohne pädagogische Ausbildung. Sie sind Biologen, Zahnarzthelfer oder Journalisten wie Petra Boberg, die im Selbstversuch getestet hat, ob das funktionieren kann. Drei Monate hat die hr-Redakteurin an der Brennpunkt-Grundschule Kinder unterrichtet und ihnen gezeigt, wie man das Y schreibt, was der Unterschied zwischen Perfekt und Imperfekt ist und wie man Konflikte löst, ohne Gegenstände durchs Klassenzimmer zu werfen. Eine Einführung dafür hat sie nicht bekommen.
Als studierte Germanistin wusste Boberg zumindest in Deutsch, worum es geht. Als Journalistin kann sie mit Sprache umgehen, kann Perfekt von Imperfekt und Plusquamperfekt unterscheiden, weiß, wo man den Konjunktiv einsetzt und wo den Indikativ. Im Klassenzimmer half ihr das nur wenig: "Die Schüler haben Fragen, die ich alle beantworten muss. Wann schreibe ich 'das' mit einem s, wann mit doppel-s? Warum schreibe ich 'Häuser' mit äu und nicht mit eu? Und was ist nochmal ein Substantiv? Theoretisch weiß ich das natürlich alles, aber wie erkläre ich es am besten? Wie verstehen es die Kinder am besten? Da fehlt mir die Didaktik."
Architekten, Krankenschwestern und Studenten als Lehrer
Wie Boberg geht es tausenden anderen Quereinsteigern an deutschen Grundschulen. Eine von ihnen ist Martina*, die eigentlich Architektin ist. Sie war in der Schule in der Elternarbeit aktiv und hat ein halbes Jahr als U-Plus-Kraft gearbeitet, also als Vertretung zur Vermeidung von Unterrichtsausfällen. "Jetzt bin ich seit dreieinhalb Jahren Klassenlehrerin und seit gut einem Jahr entfristet."
Auch Anke* unterrichtet inzwischen Grundschüler, obwohl sie gelernte Krankenschwester ist: "Nachdem meine eigenen Kinder erwachsen waren, habe ich eine neue Aufgabe gesucht." Ein halbes Jahr habe es gedauert, bis sie alleine als Lehrerin im Klassensaal stand.
Agnes hat lange in der Werbebranche gearbeitet, jetzt studiert sie Grundschullehramt und wird schon als Lehrerin eingesetzt. In ihrer Klasse gebe es "einige Kinder, die schon schreiben können und andere, die noch nie einen Buchstaben geschrieben haben." Die alle unter einen Hut zu bekommen, sei eine große Herausforderung. Trotz ihres Studiums.
Mariya ist Künstlerin und hat "gemalt und Ausstellungen gemacht und so weiter. Jetzt unterrichte ich." Dabei fehle es ihr sehr an Didaktik, Methodik und der Kenntnis, wie die ganze Struktur funktioniere. "Ich bin auf jeden Fall ein Notnagel", meint sie.
"Es ist Unruhe für die Kinder", sagt Petra Boberg. "Viele Regeln, die sie kennen, werden nicht eingehalten, Buchstaben werden anders vermittelt, als sie es eigentlich gelernt haben, es ist viel lauter im Unterricht. Ich bin weit davon entfernt zu sagen, dass ich hier professionell als Grundschullehrerin gearbeitet habe."
Eltern werden oft nicht informiert
Dass sie es nicht mit ausgebildeten Lehrern zu tun haben, wissen oft weder Schüler noch Eltern. "Die werden als Lehrer vorgestellt, wenn die Einschulungsfeier ist und die gehen vorne mit lang", erzählt eine Grundschullehrerin aus Mecklenburg-Vorpommern. Man möchte die Laien-Pädagogen schützen, sie nicht angreifbar machen.
Aber haben Eltern nicht das Recht zu erfahren, wer ihre Kinder unterrichtet? "Normalerweise sollten die Eltern eigentlich mitbekommen, wer die Lehrerin und der Lehrer ihrer Kinder gerade am Anfang der Schulzeit ist", sagt Alexander Lorz, Präsident der Kultusministerkonferenz und hessischer Kultusminister. Die Entscheidung darüber möchte er aber den Schulen überlassen: "Ich halte nichts davon, da mit einem Erlass von Seiten des Ministeriums zu sagen: Am Elternabend muss ein Lebenslauf der Lehrperson ausgeteilt werden."
Isabelle Ceriello ist Mutter von fünf Kindern, sie kennt die Situation an Grundschulen – und spricht von Lehrern, die ihre Kinder "gar nicht kannten, die sie dann auf einmal mitten im Unterricht bekamen und auch wieder weggenommen bekommen." Die Vertrauensbasis, die Grundschüler oft bräuchten, um frei reden zu können, "die war sehr wenig gegeben."
Dazu kommt, dass Schüler Unsicherheiten sehr schnell wahrnehmen, sagt Lehrerin Uta Römer: "Die Kinder merken das sofort, wenn jemand unsicher ist, weil er noch nicht so viel Erfahrung hat oder eben keine Erfahrung." Eine Einschätzung, die Nico (10) aus Darmstadt bestätigt: "Die sind oft viel zu nett zu uns und kriegen die Klasse nicht in den Griff." Und auch für eine Schülerin von Petra Boberg steht schnell fest: "Sie macht das sehr gut und wir haben immer Spaß mit ihr. Aber man merkt auch, dass sie keine richtige Lehrerin ist, weil sie nicht alle Regeln kennt."
"Lehrermangel verschärft Chancenungleichheit"
Die Situation an den Grundschulen mache sie "oft wütend", sagt Uta Römer. Die Quereinsteiger seien "engagierte, nette Menschen, die ihre Arbeit gut machen." Aber ohne richtige Ausbildung funktioniere es eben nicht: "Das geht zu Lasten der Kinder, die Besseres verdient haben." Es gehe vor allem zu Lasten jener Schüler "in sozial schwachen Gebieten", sagt Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm. Dort werden besonders viele Quereinsteiger eingesetzt, weil die meisten ausgebildeten Lehrer lieber an weniger schwierigen Schulen unterrichten. Gerade an den sogenannten Brennpunktschulen können es sich viele Eltern aber nicht leisten, die Mängel im Unterricht durch private Nachhilfe auszugleichen. Der Lehrermangel verschärfe also nicht zuletzt die "Chancenungleichheit in unserem Land", sagt Klemm.
"Ich hatte Angst, einige Schüler zu verlieren", sagt Petra Boberg. "Manche schalten nach zehn Minuten ab, werfen ihren Spitzer durch die Klasse, schwätzen oder kippeln. Andere haben Probleme beim Lesen und Schreiben." Elf Wochen habe sie immer wieder die gleichen Fragen im Kopf gehabt: 'Liegt es an meinem Unterricht? Haben die Schüler Defizite, die ich nicht erkenne? Und vor allem: Wie kann ich alle Kinder abholen?' Sie habe Kolleginnen und Kollegen in der Schule gefragt, Fachliteratur gelesen, im Internet recherchiert und sogar YouTube-Tutorials geschaut. Drei Monate lang habe sie versucht, allen ihren Schülern gerecht zu werden: den Schnellen, den Unkonzentrierten, den Träumern, den Starken und den Schwachen.
Was am Ende bleibt, ist ein Gefühl: "Ich habe es nicht geschafft", sagt Petra Boberg.
*Namen von der Redaktion geändert
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19 Kommentare
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Als ausgebildeter Gymnasiallehrer der Fächer Chemie. Geschichte, Latein sowie Politik&Wirtschaft mit Jahrzehnte langer Berufserfahrung in der Industrie und ein paar Jahren im hessischen Schuldienst kann ich jedem jungen Menschen nur vom öffentlichen Schuldienst abraten. Gemäß Grundgesetz sind Justiz und Kultur Ländersache. Daher ist der Dienstherr auch gleichzeitig (Arbeits-) Gerichtsherr. Wenn auch das untere Arbeitsgericht mehrfach zugunsten des Angestellten entscheidet (Az: 6 Ca 53/08; 3 Ca 428/08), so hat das Landesarbeitsgericht eine davon diametral abweichende Rechtsauffassung, wie Richterin Jörchel zeigt (Az.: 2 Sa 825/09). Möglicherweise heißt das Landesarbeitsgericht Frankfurt am Main nur deshalb "Landesarbeitsgericht", weil es die Interessen des Landes Hessen vertritt.
Daher hat man als Angestellter eines multinationalen Konzerns gegenüber seinem Arbeitgeber in einem Arbeitsgerichtsverfahren bessere Chancen als im öffentlichen Schuldienst. -
Es gibt noch so viele Lehrer in Hessen, dass es sich das KuMi erlauben kann, aufmüpfige Lehrer auf eine "Schwarze Liste" zu setzen, die einem Berufsverbot gleichkommt. Wer auf dieser Informationsliste steht, dem darf keine offene Stelle angeboten werden. Die Kriterien für den Eintrag sind willkürlich, wie die Frankfurter Rundschau bom 11.08.2011 schrieb. Zwei Mitarbeiterinnen der Agentur für Arbeit stellten in meinem Falle unabhängig voneinander fest:"Die wollen Sie nicht. Es kann nicht sein, dass die Agentur ständig mit Angrsngen bombardiert wird, aus irgendwelchen Arbeitslosen Lehrer zu machen, während man Ihnen, einen ausgebildeten Lehrer mit den Fächern Chemie. Geschichte, Latein sowie Politik und Wirtschaft gekündigt hat.
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Der Lehrermangel im Hessen ist erschreckend! Allerdings tut das Land auch nichts dagegen. Fachkräfte werden weiterhin mit befristeten Verträgen hingehalten! Ich selbst bin Lehrerin, ursprünglich für den Haupt- und Realschulzweig. Doch gleich nach dem Referendariat ging ich an die Grundschule. Das war 2012! Seither (abgesehen von dem Jahr elternzeit) habe ich immer wieder nur befristete Verträge bekommen, obwohl ich seit Jahren erfolgreich Klassen führe und vom Fach bin. Ich habe mittlerweile mehr Erfahrtung an der Grundschule als an der Sek. 1. Aber wenn gr lernte Kräfte sdo vergrault werden und stattdessen lieber der Bäcker von nebenan einspringen soll, wissen wir ja, wie viel dem Kultusministerium an den hessischen Schülern liegt!