Quereinsteigerin Verena A. "Vom System komplett enttäuscht"
Verena A. studiert seit eineinhalb Jahren Lehramt, unterrichtet aber schon seit sieben Jahren an hessischen Grundschulen. Ohne Quereinsteiger wie sie wäre der Grundschulbetrieb in Hessen derzeit kaum aufrecht zu erhalten. Doch welchen Preis zahlen Schüler und nicht zuletzt die Quereinsteiger?
"Angefangen hat es mit dem Religionsunterricht." Eine Bekannte, die an einer Grundschule arbeitet, habe sie auf den Bedarf hingewiesen. "Ich habe vorher schon viel mit Kindern gearbeitet, auch in der Gemeindearbeit. Also habe ich zugesagt." Kaum hatte Verena ihre ersten Unterrichtsstunden gegeben, standen schon andere Schulleiter Schlange. "Die wussten nur meinen Namen und meine Telefonnummer" - und boten direkt einen Vertrag an. "Und somit bin ich direkt an drei Schulen eingestiegen in den Religionsunterricht."
In Hessen unterrichteten 2018 nach Angaben des Kultusministeriums 6.300 Menschen wie Verena A., die gar kein Lehramt studiert haben. Das waren mehr als zehn Prozent aller hessischen Lehrer. Das Hessische Kultusministerium verwendet diese Zahlen von 2018 nicht mehr und teilte mit, dass darin eine größere Zahl von Lehrkräften enthalten gewesen sei, deren Qualifizierung in der Lehrer- und Schülerdatenbank (LUSD) im Oktober 2018 nicht korrekt eingepflegt gewesen sei.
Das habe man aber zum Teil bereits im Frühjahr dieses Jahres beheben können. So ergebe sich eine Gesamtzahl von 4.300 Lehrern ohne Lehramt oder Lehrbefähigung an hessischen Schulen, davon 1.300 an Grundschulen. Eine Gruppe wurde nun gänzlich aus der Rechnung genommen, wie das Kultusministerium mitteilt: Lehrer, die ausschließlich Religion unterrichten. Reine Religionslehrer wie Verena anfangs auch, doch das änderte sich schnell.
Kein Einzelfall
Eine der Grundschulen bat Verena, auch Englisch zu unterrichten - schließlich käme sie doch gerade aus Kanada zurück. "Anscheinend genügt es mittlerweile schon, eine Sprache zu sprechen", um diese auch zu unterrichten, sagt Verena. Insgesamt 18 Wochenstunden unterrichtete sie damals an gleich drei Schulen - als Einsteigerin, ohne Studium. Schnell durfte sie nicht nur Religion und Englisch, sondern auch die Hauptfächer Deutsch und Sachkunde unterrichten. Seit sieben Jahren lehrt Verena nun - ohne Lehrbefähigung.
Verena ist kein Einzelfall, nicht in Deutschland, nicht in Hessen. Auch wenn das Bundesland lange keine Angaben zu "Lehrkräften ohne Lehrbefähigung" gemacht hat, muss das Kultusministerium um Minister und KMK-Chef Alexander Lorz (CDU) nun eingestehen, dass mit etwa 1.500 Lehrern ohne Lehrbefähigung ein Zehntel aller Grundschullehrer nicht - oder noch nicht fertig - Lehramt studiert hat. Und trotzdem werden sie eingesetzt.
"Keine Weiterbildung, keine Hilfe"
Im Fall von Verena geschah das ohne jegliche Unterstützung. "Ich habe nichts angeboten bekommen. Keine Weiterbildung, keine Hilfe." In Eigeninitiative habe sie sich außerhalb der Unterrichtszeiten weitergebildet, mit Lehrerinnen und Lehrern gesprochen, Lehrwerke gelesen. Und im Internet recherchiert, wie sie den Kindern nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch das Einhalten von Regeln beibringen könne. Und wie so eine Schulstunde überhaupt aufgebaut werden müsse. Doch schnell hat sie gemerkt: "In der Realität ist alles ganz anders."
Entstanden ist das Problem mit dem Lehrermangel u.a., weil die Kultusministerien in vielen Bundesländern mit zu geringen Schülerzahlen gerechnet haben. Im September legten die Bildungsforscher Klaus Klemm und Dirk Zorn im Namen der Bertelsmann Stiftung eine Studie vor, die zeigte: Der Lehrermangel wird deutlich größer als von der Konferenz der Kultusminister (KMK) bisher angenommen. Grund: Die KMK habe mit alten Bevölkerungshochrechnungen des Statistischen Bundesamtes gearbeitet, die Bildungsforscher mit der neuesten.
An den Grundschulen spürt man zuerst die seit 2012 gestiegenen Geburtenraten, sagt der Duisburger Bildungsökonom Klaus Klemm. Wurden 2012 noch 1,41 Geburten pro Frau erfasst, sind es inzwischen 1,57. Deshalb liegen die Schülerzahlen deutlich höher als bislang von der KMK veröffentlicht. Das musste letztlich auch deren Präsident Alexander Lorz, Kultusminister von Hessen, eingestehen: Die Wissenschaftler seien ihnen zuvorgekommen, man gehe mittlerweile von ähnlichen Zahlen aus. Heißt: Die Prognose von Zorn und Klemm, dass bis 2025 nicht nur 15.000 Grundschullehrer deutschlandweit fehlen, sondern gar 26.300 - wird auch nach Ansicht der KMK zutreffen.
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Bis 2025 fehlen 1.945 Grundschullehrer in Hessen
Auch Hessen hat den Bedarf für die kommenden Jahre lange nicht exakt genug vorhersagen können. Dem Hessischen Rundfunk liegen nun die neusten Prognosen für den Lehrkräftebedarf an hessischen Grundschulen ebenso vor wie ein Einblick in die Methodik der Prognose. Bislang eine heilige Kuh für die Kultusbürokratie, die niemand von außen näher betrachten durfte. Nach den neuesten Zahlen kann der Bedarf in den Jahren 2019 bis 2025 nicht mit voll ausgebildeten Grundschullehrern gedeckt werden. Bis 2025 fehlen an den hessischen Grundschulen mindestens weitere 1945 Lehrer.
Die gute Nachricht: Hessen arbeitet seit einigen Jahren mit Prognosen für verschiedene Teilbereiche, seit 2017 mit einer Kombination aus verschiedenen Verfahren. Dabei werden auch jährliche Kurzzeittrends sowie Langzeitprognosen berücksichtigt. So berechnet man dann die Schülerzahlen und die entsprechenden Lehramtsstellen. Diese Prognose schaut fünf bis sechs Jahre in die Zukunft und wird laufend aktualisiert. Sie beinhaltet neben Geburtenraten auch andere Faktoren, etwa aktuelle politische Maßnahmen, beispielsweise den weiteren Ausbau der Ganztagsschule.
Klar ist: Passiert etwas Unerwartetes, etwa eine Trendwende bei den Geburten oder ein großer Zuwachs an Schülern ohne deutschsprachigen Hintergrund, wackelt die Prognose. Sie wird deshalb mehrmals im Jahr nachgebessert, um schnelle Reaktionen zu ermöglichen. Seit 2015 sah sich Hessen nach Angaben des Kultusministeriums mit 60.000 Schülern mehr konfrontiert - als Folge der Migration.
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Auch Quereinsteigerin Verena wurde von dieser Situation überrascht. Mitten in den Sommerferien habe sie eine E-Mail bekommen: "Übrigens dein Stundenplan für nächstes Schuljahr. Du hast jetzt eine Intensivklasse." Man wisse selbst noch nicht so genau, was das eigentlich sei. Auch Verena traf das unvorbereitet: "Ich musste erstmal googeln, was überhaupt eine Intensivklasse ist."
Diese dienen als Hilfe für Schülerinnen und Schüler, die grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben müssen. "Die Kinder sind teilweise zwei Tage vorher in Frankfurt angekommen, sprechen kein Wort Deutsch, haben mitunter drei Jahre Flucht hinter sich." Andere Schüler in der gleichen Klasse wären wiederum als Kinder von im Ausland berufstätigen Deutschen aufgewachsen. "Mittendrin saß dann ein Kind von den Philippinen, das aber schon in Neuseeland auf die Schule gegangen ist, weil ihr Vater irgendwie ein ganz hohes Tier irgendwo ist."
Prognosen sind genauer geworden
Mittlerweile bessert das Kultusministerium ihre Schülerzahlprognose mehrmals im Jahr nach, um schnelle Reaktionen zu ermöglichen. Seit die Statistiker im Wiesbadener Kultusministerium verschiedene Verfahren kombinieren, sind die Prognosen viel genauer geworden. Für die Grundschulen sanken die Abweichungen von bis zu 2,78% zur tatsächlichen Schülerzahl auf eine aktuelle Abweichung von +0,07%.
Für die Zukunft lässt es sich so besser planen. Die entstandene und in den kommenden Jahren wachsende Lücke an Lehrern muss Hessen dennoch füllen. Gerade an Grundschulen. Und da sind neben der Reaktivierung von Ruheständlern und der Bitte an Teilzeitlehrkräfte, ihre Stundenzahl aufzustocken, die Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung derzeit ein dringend notwendiges Mittel. Ausgebildete Gymnasiallehrer für die Grundschule weiterzubilden oder die Zahl der Studienplätze aufzustocken zeigt eben bestenfalls nur mittel- oder langfristig Wirkung.
"De-Professionalisierung des Lehramts"
Ohne Quereinsteiger wie Verena wird es in den nächsten Jahren nicht funktionieren. Unverantwortlich findet das die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Prof. Ilonca Hardy. Sie hält nichts davon, Quereinsteiger in Grundschulen einzusetzen. Das sei eine horrende Situation, die den Stellenwert der Bildung in unserer Gesellschaft in ein sehr schlechtes Licht werfe. Jedes Kind habe eine professionelle Begleitung verdient, um den Lernweg fürs Leben zu gestalten.
"Wir erleben eine De-Professionalisierung des Lehramts, eine Abwertung der Arbeit der Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer in Deutschland, die es in dieser Form seit den 1960er Jahren noch nicht geben hat“, sagt der Berliner Professor für Grundschulpädagogik Jörg Ramseger von der Freien Universität Berlin. "Die Opfer stehen ja schon fest. Wir wissen ja, wer versagen wird. Es sind die Kinder, die die professionellsten Pädagogen brauchen. Und genau in diese Schulen schicken wir derzeit die meisten Quereinsteiger. Weil in den Villenvierteln sind die nicht." Dort seien ordentlich ausgebildete Lehrer.
"Die Krise gut gestalten"
Es geht also nur noch darum, die Krise möglichst gut zu gestalten. Deshalb fordert Bildungsforscher Klaus Klemm, die Ausbildung der Quereinsteiger zu verbessern. Er will, "dass keiner in die Schule kommt, der oder die gleich am ersten Tag der Schule zum ersten Mal nach der eigenen Schulzeit vor der Klasse steht." Deshalb wünscht sich Klemm: "Angesichts der entstehenden Mangelsituation werden wir noch viele Jahre mit solchen Maßnahmen arbeiten müssen. Dann sollten wir dafür sorgen, dass das anständig passiert und das in möglichst allen 16 Bundesländern vergleichbar."
Für Verena kommt das zu spät. Sie sei "vom System komplett enttäuscht", spricht von "Mangelverwaltung". Jahrelang bekam sie keinerlei Unterstützung. Irgendwann kam der Punkt zu sagen: "Ihr könnt mich alle mal. Ich gehe am Stock." Auch, weil ihr Bemühen, Lehramt nachzustudieren, lange keinen Anklang fand. Hürden statt Hilfe. "An der gesamten Uni durften nur neun Personen Lehramt im Zweitstudium studieren." Vor anderthalb Jahren durfte sie schließlich doch noch ins Studium nachrücken. Jetzt sitzt sie in den Quereinsteiger-Seminaren neben anderen, die noch gar nicht unterrichtet haben. "Ich habe dort gemerkt, wie die anderen Leute, die dieses Jahr angefangen haben, vor welchen riesigen Problemen die stehen." Klassen, die sie von ungelernten Lehrern übernommen hat, zeugten davon. "Da herrschte Sodom und Gomorra", was kein Wunder sei, wenn man dem Lehrermangel zunehmend mit überforderten Quereinsteigern begegne, die keinerlei Erfahrung mitbrächten.
Nur: Ohne Quereinsteiger wie Verena wird es in den nächsten Jahren an den hessischen Grundschulen nicht funktionieren. An ihrer Schule ist sie unverzichtbar.
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