75 Jahre Kinsey-Report Viel Wirbel um das sexuelle Verhalten des Mannes
Vor 75 Jahren erschien in Amerika ein Buch, das die Nation veränderte: der erste Kinsey-Report. Für das Werk hatte der Zoologe und Sexualforscher Alfred Charles Kinsey Zehntausende Männer zu ihrem Sexualverhalten befragt. Was heute allenfalls ein müdes Lächeln auslöst, brachte das prüde Amerika der 40er und 50er an die Grenze der Überforderung.
So rührend–nostalgisch die 50er Jahre-Schlager über Alfred Kinsey heute anmuten, so verwundert reibt man sich rückblickend die Augen, wie sehr seine Sexualkunde die amerikanische Gesellschaft an die Grenze der Überforderung brachte. "Über das Sexualleben des Menschen wissen wir so gut wie nichts, weniger als über das Sexualverhalten aller anderen Tiere", so Professor Alfred Kinsey 1956 in einem seiner raren Fernsehinterviews.
Zum Aufklärer der Nation wurde der Zoologe und Insektenforscher eher zufällig und zunächst auch wider Willen. Die Universität, an der der 1894 Geborene forschte und lehrte - in Bloomington, Indiana -, brauchte einen Projektleiter für eine Datenerhebung zum Thema Sexualität. Und wählte Kinsey wohl auch, weil der so gar nichts Unkonventionelles oder gar Revolutionäres hatte.
Bisexualität, Masturbation und Seitensprünge
Alfred Kinsey war äußerlich ein eher biederer, monogamer Familienvater, wählte republikanisch und verließ nie das Haus, ohne sich eine Fliege umzubinden. Das Sex-Projekt begann er mit einfachsten Mitteln: Er befragte seine Studenten. Klingt läppisch, war aber ein kolossaler Tabubruch, wie Justin Lehmiller meint, der am noch immer existierenden Kinsey-Institute der Uni von Bloomington unterrichtet.
Der erste Kinsey Report zum männlichen Sexualleben offenbart Erkenntnisse, die die meisten Amerikaner im Jahre 1948 wie ein Vorschlaghammer treffen: Die Hälfte der befragten Männer ist zu einem gewissen Grad bisexuell veranlagt. 90 Prozent masturbieren regelmäßig. Ein Drittel geht fremd. 68 Prozent sind bei Prostituierten gewesen, 37 Prozenz hatten mindestens einen homosexuellen Kontakt. Fünf Jahre später dann der Report über Frauen: 66 Prozent aller Amerikanerinnen träumen von Sex, 62 Prozent masturbieren, 14 Prozent hatten multiple Orgasmen. Männer erreichen den Höhepunkt ihrer sexuellen Leistungskraft mit 19 Jahren, Frauen erst mit 30.
Das konservative Amerika stand Kopf
Um diese Daten zu erheben, haben die Mitarbeiter Kinseys über die Jahre Zehntausende befragt: in Kegelclubs, Handarbeits-Zirkeln, Studentenverbindungen. Das konservative Amerika stand Kopf - Kinsey sexualisiere die Gesellschaft, sei verantwortlich für Teenager-Schwangerschaften, wechselnde Partnerschaften und die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Er verharmlose Kindesmissbrauch, indem er auch Pädophile in seine Studien miteinbeziehe. Auch aus der Wissenschaft hagelte es Kritik, vor allem wegen Kinseys Methodik: Er habe längst nicht alle Bevölkerungsgruppen befragt, sondern nur Freiwillige, viele Studenten, keine Arbeiter, viele Weiße, kaum Schwarze.
Heute wird Kinsey als Pionier einer neuen Forschungsdisziplin verehrt und in Popkultur verewigt: Etwa in dem Hollywood-Film mit Liam Neeson aus dem Jahre 2004. Kinseys Visionen von sexueller Freiheit und der Akzeptanz des gesamten Spektrums sexueller Orientierung wurden erst in den 60er Jahren zu einer Bewegung. PROK, wie Professor Kinsey von seinen Mitarbeitern genannt wurde, durfte das nicht mehr erleben: Er starb 62-jährig, im Jahre 1956, an einem Herzinfarkt.
Sendung: hr-iNFO "Aktuell", 31.1.2023, 9 bis 12 Uhr
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