Pars pro toto: Per Los im Bürgerrat "Eine überragende, lebensverändernde Erfahrung"

Demokratie heißt ... Ja, was eigentlich? Alle paar Jahre wählen gehen oder geht da noch mehr? Teilnehmende von Bürgerräten sind jedenfalls überzeugt: Mehr Bürgerbeteiligung kann Entscheidungen besser machen. Und sogar der Polarisierung der Gesellschaft entgegenwirken. Aber stimmt das?

Pars pro toto.
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"Ich will nicht übertreiben, aber das war eine überragende, lebensverändernde Erfahrung", sagt Anand Kumar. Der Vermögensberater aus Darmstadt hat an einem Bürgerrat teilgenommen - und das hat ihn von einer eher resignierten politischen Haltung zurückgebracht zur Überzeugung: "Wir können schon was machen, jede Meinung ist wichtig."

In Bürgerräten sitzen Menschen, die zufällig aus der Bevölkerung ausgelost werden und gemeinsam Lösungen für politische Probleme erarbeiten. Sie entstehen entweder durch eigene Initiative von Bürgerinnen und Bürgern oder sie werden vom Parlament einberufen. In Deutschland ist das in diesem Jahr zum ersten Mal passiert: Am 10. Mai haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestags die Einsetzung eines Bürgerrats zum Thema "Ernährung im Wandel" beschlossen. Er soll der Politik ein Stimmungsbild aus der Bevölkerung liefern: Welche Maßnahmen braucht es für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung? Und was sind wir bereit zu akzeptieren?

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Podcast-Reihe: Pars pro toto - Per Los im Bürgerrat

In unserer neuen Podcast-Reihe beschäftigen wir uns mit Bürgerräten und der Frage, ob sie - zumindest bei manchen Themen - zu besseren Lösungen kommen als Politikerinnen und Politiker. Und ob sie uns als Gesellschaft wieder näher zusammenbringen können. Dazu schauen wir in verschiedene Bürgerräte innerhalb und außerhalb Deutschlands - und begleiten einen Bürgerrat in Darmstadt bei seiner Entstehung. Wir begleiten Teilnehmende von Anfang bis Ende und wollen wissen: Wie findet man eine gemeinsame Lösung, wenn man ganz unterschiedliche Meinungen hat? Wie kommen wir wieder ins Gespräch miteinander? Und wie verändert ein solcher Prozess unseren Blick auf die Politik?

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Austauschen statt anbrüllen

Damit Bürgerräte möglichst repräsentativ sind, werden die Teilnehmenden nach bestimmten Kriterien zusammengesetzt. Akademiker sitzen so neben Handwerkerinnen, Rentnerinnen neben Jugendlichen, hier geborene Menschen neben Zugewanderten. Gemeinsam berät diese Gruppe dann über eine Frage, bekommt Input von Experten und soll am Ende zu einer Lösung kommen.

Was schwierig klingt, funkioniert erstaunlich gut – und begeistert Teilnehmende wie Anand Kumar immer wieder. Bürgerräte, so sind sie überzeugt, können in manchen Fragen zu besseren Entscheidungen kommen als Politikerinnen und Politiker. Und sogar der Polarisierung der Gesellschaft könnten sie entgegenwirken, meint etwa André Siber. Er arbeitet bei der Wissenschaftsstadt Darmstadt und hat dort an einem Testlauf für einen Bürgerrat teilgenommen, der sich gerade gründet. "Ich glaube, dass das dazu führen kann, dass Menschen wieder eher aufeinander zugehen, weil man wirklich im Austausch miteinander ist und sich nicht nur von weitem aus anbrüllt – oder noch schlimmer: übers Internet."

Stichwort Internet: Schaut man sich dort die Kommentarspalten in den sozialen Medien an (oder auch politische Talkshows im Fernsehen), könnte ein bisschen weniger Polarisierung, ein bisschen weniger Konfrontation und ein bisschen mehr Konsens und Lösungsorientiertheit gut tun. Aber: Sind Bürgerräte wirklich die Lösung? Können sie unsere Demokratie tatsächlich besser machen – und uns als Gesellschaft wieder näher zusammenbringen?

Politiker würden im Parlament "gerne auch mal so arbeiten"

Claudine Nierth vom Verein "Mehr Demokratie", der Bürgerräte organisiert, ist zumindest überzeugt: Bürgerräte können der Politik nicht nur ein Feedback aus dem Querschnitt der Bevölkerung, sondern auch eine Perspektive liefern, die ihr häufig fehle. Von "Menschen, die sich vielleicht schon aus der Politik abgemeldet haben, die sich sonst eher zurückhalten. Und man sagt, gerade ihre Alltagsperspektive ist das Wichtige, was der Politik helfen könnte." Und: Bürgerräte seien – anders als Parlaments-Debatten zum Beispiel – auf Konsens statt auf Krawall ausgelegt: "Das Besondere an den Bürgerräten ist, dass man nicht das Trennende herausarbeitet, sondern gerade das Gemeinsame, die Frage: Worauf können wir uns einigen?"

Und so kommen Menschen, die sich in den sozialen Medien womöglich virtuell die Augen aushacken würden, zusammen – und hören einander zu. Sprechen darüber, welche Werte sie teilen und versuchen zu verstehen, weshalb der andere so denkt, wie er denkt, statt ihm entgegenzublöken, weshalb das Quatsch und dumm und sowieso völlig falsch ist. Damit das auch funktioniert, gibt es in Bürgerräten einfache Regeln und Moderatoren, die die Diskussionsrunden begleiten. Die Teilnehmenden haben etwa gleiche Redeanteile. Jeder kommt einmal dran, bevor jemand zum zweiten Mal etwas sagen darf. Eine Diskussionskultur, die sich manche Profis auch wünschen würden: "Wir haben Politiker und Politikerinnen gehabt, die haben da zugeschaut und gesagt, eigentlich würden wir gerne im Parlament auch mal so arbeiten. Das ist schon eine ganz andere Qualität."

Harmonie zwischen Veganern und Fleischessern

Und nicht nur die Form der Diskussion, auch die Verantwortung ändere etwas in den Menschen, meint Claudine Nierth: "Jeder weiß, ich bürge hier fürs Ganze. Es geht gerade nicht darum, dass meine Meinung sich durchsetzt, sondern dass ich meine Meinung mit dazu beitrage, dass wir im Sinne des Gemeinsinns und des Gemeinwohls eine Empfehlung abgeben, die letztendlich für alle gut ist. Und das hebt natürlich jeden so ein bisschen heraus aus seinem persönlichen privaten Alltag mit Blick wirklich auf die gesamte Gesellschaft."

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Wir haben festgestellt, dass es den Menschen viel wichtiger ist, integriert zu sein als ständig das Erlebnis zu haben, ich dominiere hier die Versammlung. Zitat von Claudine Nierth, "Mehr Demokratie"
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In Bürgerräten ereignen sich also mitunter Dinge, die man draußen kaum mehr für möglich hält: Klimaaktivisten und Klimawandel-Leugner hören sich zu, Veganer und Fleischesser versuchen, einander zu verstehen. "Das Spannende ist, dass alle Positionen mit am Tisch sitzen und integriert werden", sagt Claudine Nierth. "Ich habe jederzeit die Möglichkeit, meine Aspekte mit einbringen zu können. Wenn ich aber am Ende merke, die Mehrheit geht da gar nicht mit, dann wirkt das natürlich auch zurück auf die eigene Position. Und wir haben festgestellt, dass es den Menschen viel wichtiger ist, integriert zu sein, am Tisch sitzen zu können, seine Meinung sagen zu können, als ständig das Erlebnis zu haben, ich dominiere hier die Versammlung."

Urte Stahl, gebürtige Hessin und mittlerweile Landschaftsplanerin in Baden-Württemberg, hat am Bürgerrat Demokratie teilgenommen. Ein großes Plus für sie war, dass Bürgerräten eine weitere Form der Dominanz fehle: die von mächtigen Lobby-Gruppen nämlich. Durch die große Meinungsvielfalt, das zeige sich in Erfahrungen, "orientieren sich die Empfehlungen von Bürgerräten sehr stark am Gemeinwohl und sind deutlich weniger von Lobby-Interessen getroffen als das manchmal bei Entscheidungen des Parlaments zu sein scheint."

Ein Trinkbrunnen fürs Gemeinwohl

Ein Beispiel aus Darmstadt zeigt, wie eine solche Orientierung am Gemeinwohl aussehen und zustande kommen kann: Dort haben sich knapp zehn junge Leute zusammengetan und verbringen sehr viel Zeit in ihrer Freizeit damit, einen Bürgerrat für ihre Stadt auf die Beine zu stellen. In einem ersten Testlauf sollten Teilnehmende Ideen erarbeiten, wie es vor ihrer Haustür aussehen soll; ein älterer Herr brachte einen Trinkbrunnen ins Spiel. Und obwohl andere Teilnehmende andere Ideen hatten, machte der Trinkbrunnen am Ende das Rennen – weil Menschen zusammenkamen und einander zugehört haben. "Im Gespräch kam heraus, dass es an bestimmten Plätzen in der Stadt zu Hitzekuppeln kommt, wo es im Sommer sehr heiß wird und die älteren Personen sich teilweise nicht mehr hintrauen. Sie sagen, es gibt hier keinen Schatten und keinen Platz, wo sie ihr Wasser auffüllen können", erzählt Carmen Sakas-Gandullo, eine der Organisatorinnen des Darmstädter Bürgerrats. Die Gruppe sei im Durchschnitt eher jung gewesen und habe auch andere gute Ideen gehabt – entschied sich aber am Ende für die Idee des älteren Herrn. "Die haben gesagt: ‚Hey, zum Wohl von Dir und der Gruppierung, die Du darstellst, möchten wir unsere Wünsche nach hinten stellen. Wir finden, Dein Bedürfnis ist groß genug, dass wir uns als Gruppe für diese Idee entscheiden.'"

Harmonie statt Krawall also, Gemeinwohl statt Ego, Meinungsvielfalt statt Lobby-Interessen. Aber was kommt danach? Wird es zum Beispiel den Trinkbrunnen in Darmstadt wirklich geben? Und was passiert mit all den anderen Ideen, die Bürgerräte erarbeiten? Da Bürgerräte nur eine beratende Funktion haben, bleibt es letztlich der Politik überlassen, was mit den Ergebnissen geschieht. Und in diesem Bereich sehen Organisatorinnen und Teilnehmende noch deutliche Defizite. Katharina Liesenberg hat den Bürgerrat in Frankfurt, den Demokratiekonvent, mit organisiert und zwei Veranstaltungen begleitet: zu Klimapolitik und zu Bürgerbeteiligung. Bei der Bürgerbeteiligung sei schon ein bisschen was passiert, sagt sie. So habe es die dauerhafte Einrichtung des Demokratiekonvents in den Koalitionsvertrag geschafft und es würde Geld für eine bessere Bürgerbeteiligung bereitgestellt.

Enttäuschung bei der Umsetzung

Beim Thema Klimapolitik sei es allerdings ein bisschen schwieriger. Nach einem Jahr habe es eine Veranstaltung gegeben, um zu schauen: Was ist eigentlich mit den Ergebnissen passiert? "Und da gab es schon jede Menge Streit und auch Enttäuschung auf Seiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass mit den Ergebnissen bislang sehr wenig passiert ist." Zur Rechtfertigung wurde seitens der Politik auf Abstimmungsprozesse verwiesen, auf Geldfragen, auf laufende Projekte. "Die politischen Mühlen mahlen einfach sehr langsam und das ist natürlich eine Herausforderung, so eine Art von Ergebnis noch mit einzubinden", sagt Liesenberg. Gleichzeitig gebe es aber gerade bei der Klimakrise eine Dringlichkeit, die es für viele nicht mehr nachvollziehbar mache, weshalb vieles so lange dauere.

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Wir haben ja ganz unterschiedliche Definitionen von repräsentativ. Es gibt auch die deskriptive Repräsentation, das heißt, dass das die Zusammensetzung der Bevölkerung spiegelt. Damit haben wir beispielsweise im Parlament ein großes Problem. Zitat von Prof. Brigitte Geißel, Politikwissenschaftlerin
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Braucht es also mehr Verpflichtungen für die Umsetzung von Bürgerrats-Ergebnissen? Das müsse letztlich jede Gesellschaft für sich entscheiden, sagt die Politikwissenschaftlerin Prof. Brigitte Geißel. Sie leitet an der Frankfurter Goethe-Uni die Forschungsstelle "Demokratische Innovationen" und hat schon mehrere Bürgerräte evaluiert. Bürgerräte könnten eine rein beratende Funktion haben, sagt sie, es könnte eine Rechenschaftspflicht seitens der Politik geben oder man könne über die Ergebnisse sogar in einem Referendum abstimmen lassen, wie es etwa in Irland passiert ist.

Der Einwand, Bürgerräte seien nicht demokratisch legitimiert und nicht wirklich repräsentativ und könnten insofern nicht mehr als eine rein beratende Funktion haben, gilt für Geißel nur bedingt: "Was ist repräsentativ?", fragt sie. "Wir haben ja ganz unterschiedliche Definitionen von repräsentativ. Das kann durch Wahlen gewährleistet werden. Aber es gibt auch die sogenannte deskriptive Repräsentation, das heißt, dass das die Zusammensetzung der Bevölkerung spiegelt. Damit haben wir beispielsweise im Parlament ein großes Problem." Man müsse also erst mal diskutieren und definieren, was repräsentativ eigentlich sei – und dann könne man weiter überlegen, wie Repräsentanten oder Entscheidungen legitimiert seien.

Lernen, warum Demokratie so toll ist

Bürgerräte, so ist Geißel überzeugt, seien aber nicht nur erfolgreich, wenn ihre Lösungsvorschläge direkt in Gesetze umgewandelt würden. Das passiere nur sehr selten. "Ich würde Erfolg nicht nur so definieren. Wir können auch ganz andere Indikatoren finden: gesellschaftliche Debatten zum Beispiel, die angestoßen werden. Oder ein neues Denken in der Politik, wie man Bürger mit einbeziehen kann. Ich glaube, man muss das wirklich breit sehen, was man als Erfolg wahrnimmt."

Bürgerräte, so sagt die Wissenschaftlerin, sind also eine Bereicherung für unsere Demokratie - auch wenn die Ergebnisse nicht direkt umgesetzt werden. Weil sie Debatten anstoßen können, weil neue Ideen entstehen und weil Probleme erkannt und Lösungen entwickelt werden können, die die Interessen, Wünsche und Erfahrungen der Bürger widerspiegeln – und das fehle in der Politik derzeit. 

In puncto Polarisierung warnt Geißel allerdings vor zu großen Erwartungen: Innerhalb der Bürgerräte würde der Polarisierung zwar entgegengewirkt, das zeigten Experimente. Man würde den Bürgerrat aber überfordern, wenn man sage: "Wir machen jetzt ein paar Bürgerräte und dann ist die Gesellschaft nicht mehr polarisiert. Dazu sind es einfach zu wenige Menschen, die daran teilnehmen können. Wenn man sehr viele Bürgerräte machen könnte, würde das natürlich etwas anstoßen. Aber ich glaube, wir müssen uns noch weitere Verfahren ausdenken, mit denen der Polarisierung entgegengewirkt wird."  

Anand Kumar hingegen zeigt sich in dieser Frage optimistisch. Bürgerräte seien ein ganz starkes Mittel gegen die Polarisierung der Gesellschaft, meint er: "Weil man da wieder lernt zu diskutieren und wie man gemeinsam zu Ergebnissen kommt. Und das wäre so mein Wunsch für die gesamte Gesellschaft: Dass wir alle lernen, wieder anständige Demokratien zu werden. Aber dann müssen wir halt wieder lernen, warum es eigentlich so toll ist, in einer Demokratie zu leben."

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Sendung: hr-iNFO "Pars pro toto: Per Los im Bürgerrat", 18.5.2023, 10:05 Uhr

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Quelle: hr INFO