Volksdroge Nummer 1 Brauchen wir einen anderen Umgang mit Alkohol?
Alkohol gilt als Genussmittel und ist seit Jahrhunderten fester Bestandteil unserer Kultur. Er richtet aber auch große Schäden an. Manche Forscher halten ihn sogar für das gefährlichste Suchtmittel von allen. Doch die Politik bleibt zu untätig, beklagen Gesundheitsexperten. Dabei könnten bessere Gesetze Leben retten, sagen sie.
„Ich trink schon gern mal ein Gläschen“. Das sagen eigentlich alle, die auf dem Wochenmarkt an der Konstablerwache in Frankfurt stehen. Präziser: am Weinstand. Keine große Überraschung also. Auf der Straße nebenan findet man auch ein paar, die nicht gerne trinken. Aber für die meisten gehört Alkohol ab und an eben doch dazu. Eine Gruppe älterer Herren auf dem Markt ist sich sicher: „Das ist Teil unserer Kultur, das ist ganz normal – für die Unterhaltung und für die Geselligkeit.“
Alkohol gilt als Kulturgut in Deutschland. Ob bei der Firmenfeier, auf Partys oder bei Treffen mit Freunden: Ein Gläschen - oder auch ein paar mehr - sind fast immer dabei. Für die, die in Maßen trinken können, ist das auch kein Problem. In Maßen heißt laut Medizinern übrigens: bei Frauen nicht mehr als ein, bei Männern nicht mehr als zwei Standardgläser an nicht mehr als fünf Tagen in der Woche. Bei vielen klappt genau das aber eben nicht: Etwa 6,7 Millionen Menschen in Deutschland trinken so viel, dass sie ihre Gesundheit damit gefährden, 1,6 Millionen gelten sogar als abhängig.
Krankheiten, Todesfälle, Gewalt und Milliardenkosten für die Volkswirtschaft
Und deshalb verursacht Alkoholkonsum auch große Schäden – für den einzelnen, für das Umfeld und für die gesamte Gesellschaft. Zehntausende Menschen in Deutschland sterben jedes Jahr an den Folgen des Trinkens, es erhöht das Risiko für rund 200 Krankheiten – teilweise schon bei geringen Mengen -, es ist mitverantwortlich für jede Menge Verkehrsunfälle und Gewaltstraftaten, und es kostet die Gesellschaft ungefähr 57 Milliarden Euro im Jahr. Die Einnahmen durch die Alkoholsteuer belaufen sich übrigens auf nur gut zwei Milliarden pro Jahr (Stand: 2020).
Und trotzdem: Alkohol scheint in Deutschland fast unantastbar. Wer - wie Abgeordnete des EU-Parlaments kürzlich - ernsthaft versuchen will, den Konsum zu reduzieren oder vor negativen Folgen zu warnen, muss mit Gegenwind rechnen. Und das, obwohl manche Studien Alkohol sogar als das gefährlichste Suchtmittel von allen bezeichnen.
"Jahrtausende verankerte Form der Geselligkeit"
Im Gegensatz zu anderen Drogen ist Alkohol legal und frei verfügbar; er ist in Deutschland an fast jeder Ecke zu haben, oft auch rund um die Uhr, und er darf mit wenigen Einschränkungen beworben werden. Alkohol sei eine Form des Rausches, der sozial etabliert und weitgehend akzeptiert sei, sagt Professor Andreas Heinz. Er ist Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin und hat sich mit dem Thema Alkohol als Kulturgut beschäftigt.
„Alkohol ist eine seit Jahrtausenden verbreitete Droge in unseren Breiten." Er habe in sozialen Ritualen eine Rolle gespielt - man denke etwa an dionysische Gelage im Alten Griechenland oder an den Gebrauch von Met. "Das ist einfach eine seit Jahrtausenden verankerte Form der Geselligkeit." Im Mittelalter gab’s Alkohol sogar als Wasserersatz, wegen der schlechten Qualität des Wassers. Nach Schätzungen haben die Menschen vom Baby bis zum Greis pro Kopf etwa fünf Liter täglich getrunken, vor allem Bier, sagt Heinz. „Sie können sich das Mittelalter also im Wesentlichen als betrunken vorstellen.“
WHO: Steuern rauf, Verkauf einschränken, Werbung beschränken
Aber Kultur hin, Geschichte her: Die Politik muss mehr tun, um die Menschen vor den negativen Folgen des Alkoholkonsums zu schützen, sagen Gesundheitsexperten wie der Sucht- und Public Health-Forscher Professor Jürgen Rehm. „Von den Folgen her macht es keinen Sinn, Alkohol so bevorzugt zu behandeln im Vergleich zu anderen Drogen“, meint er. Deutschland habe es geschafft, „von allen 190 Ländern der Welt inzwischen unter den Top-Fünf-Konsumenten von Alkohol zu sein. Und das ist nur, weil die Politik versagt hat und keine adäquaten Preise, Verfügbarkeitsbeschränkungen und keine griffigen Werbeeinschränkungen gemacht hat.“ Solche Maßnahmen könnten aber Leben retten, sagt er.
Die Forderungen sind also klar: Steuern rauf, den Verkauf einschränken und zumindest strengere Regeln für die Werbung für Alkohol. Das empfiehlt übrigens auch die WHO. In Regionen, die das umgesetzt haben, ist der Konsum pro Kopf laut einer Studie auch deutlich zurückgegangen. Außerdem gibt es Schätzungen, die sagen, dass durch eine Verdopplung der derzeitigen Verbrauchssteuern auf Alkohol in der Europäischen Region der WHO fast sechs Prozent der Krebsneuerkrankungen und Krebstodesfälle, die durch Alkohol verursacht werden, vermieden werden könnten.
"Unglaubwürdige Aufklärungskampagnen"
Den Regeln, die es schon gibt zum Schutz vor zu hohem Alkoholkonsum – also Aufklärungskampagnen etwa oder die bestehenden Beschränkungen für die Werbung -, stellt Rehm kein gutes Zeugnis aus: Diese Maßnahmen seien „Pseudo-Gesetze, die gut gemeint sind, aber vom gesundheitlichen her keine Wirkung haben.“ Es habe sich klar herausgestellt, dass sie den Alkoholkonsum nicht beeinflussen.
Das bestätigt auch Dr. Katrin Schaller, Abteilungsleiterin der Stabsstelle Krebsprävention am Deutschen Krebsforschungszentrum: „Aufklärungskampagnen, die das Ziel haben, den Alkoholkonsum zu senken, werden unglaubwürdig und wirkungslos, wenn beispielsweise Bierwerbung im Spitzensport suggeriert, dass Alkoholkonsum leistungsfördernd und gesund sei, wenn an jeder Supermarktkasse alkoholische Getränke in kleinen Fläschchen zum Kauf in letzter Sekunde verführen und alkoholische Getränke billig und somit für jedermann leicht erschwinglich sind.“
Winzer für Aufklärung statt Verbote
Klaus Schneider, Winzer aus der Pfalz und Präsident des Deutschen Weinbauverband, hält wenig von schärferen Regeln wie etwa dem Heraufsetzen des Verkaufsalters – „eigentlich nichts“, sagt er. „Natürlich“ habe der Jugendschutz eine große Priorität, aber man könne junge Menschen durchaus zu einem „verantwortungsbewussten Genusskonsum von alkoholhaltigen Getränken leiten “, meint er. Das bestätige auch der Bericht der Drogenbeauftragten aus dem Jahr 2021: „Der belegt, dass in der Zielgruppe der 16- bis 20-Jährigen das Konsumverhalten drastisch zurückgegangen ist und dass diese Menschen es zunehmend auch lernen, verantwortungsbewusst mit dem Alkoholkonsum umzugehen.“Dass wir trotzdem noch Hochkonsumland sind? Liege nicht nur am Wein, sagt er.
Unterschiedliche Meinungen und Interessen also zwischen den Produzierenden von alkoholischen Getränken und Gesundheitsexperten. Und was sagt die Politik? Die hat sich bei dem Thema in den letzten Jahrzehnten vornehm zurückgehalten. Im Jahr 2009 hat die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing von der SPD, einen Vorstoß gewagt, einige Vorschläge der WHO umzusetzen. Geworden ist daraus nichts. Das EU-Parlament hat vor einigen Wochen über Warnhinweise auf Alkohol-Etiketten debattiert als Maßnahme zur Krebsprävention, auch das wurde abgelehnt.
Klares Bekenntnis im Koalitionsvertrag
Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht jetzt ein klares Bekenntnis zur Bekämpfung von Alkoholschäden. Wörtlich heißt es dort: „Bei der Alkohol- und Nikotinprävention setzen wir auf verstärkte Aufklärung mit besonderem Fokus auf Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen. Wir verschärfen die Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis.“
Außerdem hat der neue Drogenbeauftragte Burkhard Blienert gefordert, Alkohol in Deutschland generell erst ab 18 zu verkaufen und die Werbung deutlich einzuschränken. Man müsse allerdings sehen, was politisch machbar sei, schob er gleich hinterher.
"Schritte in die richtige Richtung, aber nicht ausreichend"
Solche Maßnahmen wären „kleine Schritte in die richtige Richtung“, lobt Suchtforscher Rehm – wenn sie denn umgesetzt würden. Aber sie seien nicht ausreichend, meint er. Zentral sei die Erhöhung der Preise.
Dirk Heidenblut, SPD-Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Gesundheitsausschuss, hätte persönlich nichts gegen Preiserhöhungen einzuwenden, sagt er. Aber natürlich müsse man auch „immer eine Einigung unter den verschiedenen und in ihrer Sicht aufs Thema sehr unterschiedlichen Fraktionen hinbekommen.“ Bei Beschränkungen des Verkaufs von Getränken mit hohem Alkoholgehalt etwa sei eine Einigung „zumindest im Koalitionsvertrag zunächst mal nicht gelungen.“ Und wenn’s darum geht, die Preise zu erhöhen, stünden vermutlich auch „wirtschaftliche Gründe“ dagegen. „Weil natürlich auch ein verteuertes Produkt weniger verkauft wird.“
Suchtforscher Jürgen Rehm formuliert es so: Die Alkoholindustrie habe in Deutschland einen hohen Stellenwert. Sie drohe der Politik "mit zum Teil falschen Behauptungen, dass soundsoviel Arbeitsplätze wegfielen, dass auf einmal ein Schwarzmarkt entstünde, wenn das Bier nicht mehr 30 Cent, sondern einen Euro kosten würde. Solche Drohungen ziehen in der Politik und die Politiker haben natürlich Angst um ihre Wiederwahl.“ Sie hätten Angst, dass die Wähler sich abwenden, wenn sie die Preise erhöhen.
Mehrheiten für Steuererhöhungen "auch beim Wahlvolk möglich"
Aber: Das sei nicht unbedingt richtig. Wie so oft komme es drauf an, wie man das verkaufe. Wenn man auf die Kosten für die Gemeinschaft durch Alkoholkonsum verweise, hunderttausende Hospitalisierungen etwa pro Jahr, und sage, die erhöhten Steuern würden direkt dafür verwendet und ins Gesundheitswesen wandern – „dann zeigt sich auf einmal, dass man Mehrheiten auch beim Wahlvolk finden kann.“
Sendung: hr-iNFO "Politik", 3.3.2022, 20:35 Uhr
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